Inspiration
Begegnet
Es ist die Art, wie sie Fahrrad fährt. Genauer, die Art und Weise wie Sie über das Lenkrad und die Pedale mit dem Fahrrad kommuniziert. Den Winkel des Lenkers eng eingeschlagen, fährt Sie im Kreis. Sie stoppt abrupt, hält die Balance. Sie beschleunigt, sie gleitet dahin, mal sieht man Kraft, mal Leichtigkeit.
Mensch, Fahrrad und Umgebung sind Eins und doch unterscheidbar. Sie wirken wie in Kommunikation. Der Mensch hat eine Idee, das Fahrrad stellt Möglichkeiten zur Verfügung und die Umgebung bietet Gegebenheiten. Die Dame tut mehr, als sich auf dem Rad fort zu bewegen. Es sind gekonnte Bewegungen, die anmuten wie Kunststücke. Aus dieser Szene spricht mir entgegen, dass dieser Mensch etwas auslotet. Ist es das Fahrrad? Die Umgebung? Sich selbst?
Im Vorbeigehen schauen wir uns in die Augen und ich grüsse Sie mit den Worten: «Sie haben eine interessante Art, Rad zu fahren». Sie nickt und antwortet «ja, ich probiere die Gesetzte von Newton aus. Angewandte Physik. Fast jeden Tag experimentiere ich damit. Ich bin 74 Jahre alt.»
Es sei ihr, einer Pionierin in Physik, Philosophie, Chirurgie und Sprachen wichtig, Geist und Körper auch heute weiter zu schulen. Der Alltag und das Fahrrad bieten ihr dafür geradezu geniale Übungsfelder. Sie spricht ohne Unterlass, eins ihrer Markenzeichen, wie sie mir sagt. Und ich? Ich lausche diesem Menschen, diesem Moment und stelle Fragen dort, wo mich ihre Augen begeistert anstrahlen. Ich schaue in eine riesige Fülle an Ideen und Möglichkeiten eines Menschenlebens.
Ihr Forscherdrang, so scheint es immer wieder durch, belebte und belebt sie täglich neu. Plötzlich lachen wir beide herzhaft, wissend, dass offen bleibt, wie es weitergeht. Wir verabschieden uns mit einem Blick und ziehen jede ihres Wegs.
Lotta Ingold, März 21
«Was tun die Personen in einem Buch, wenn es gerade niemand liest?»
Zitat von Michael Ende
Das kleine Mädchen? Wenn gerade niemand das Buch aufgeschlagen hatte, in dem es dadurch zum Leben erwachte, dass die Menschen lasen, dann träumte es von der grossen Welt. Von der ganz Grossen, vom Universum. Die Sterne wollte es vom Himmel holen, den Alltag damit feiern. Tags schien ihm die Sonne, nachts leuchtete ihm das gesamte Gestirn. Da jeder Stern dem Mädchen ein Wort schenkte schrieb es viele Geschichten. Das Mondlicht wies dazu die passenden Titel. Gross und klar und zauberhaft. So schlief es Nacht für Nacht zufrieden ein.
Im Sonnenlicht am Tag darauf, gab es den Menschen die Texte zum Lesen. Die Menschen fragten, Mädchen was hast du hier geschrieben, wir kennen solche Geschichten nicht und können sie nicht verstehen. Es sann und sann und fragte sich schlussendlich: Sprechen Tag und Nacht unterschiedliche Sprachen?
Die Nacht ist ruh’n, der Tag ist tun. Das Mädchen schrieb weiter, oft des Nachts aus tiefer Ruh und klarer Kraft, folgt es den Worten mit seinem Stift. Am Tag las es seine Geschichten mit neuen Augen und bemerkt: Zur Tageszeit betteten sich seine Geschichten in viel Geschehen ein, bei jedem Menschen verschieden – laute Geräusche, stille Pausen, Ablenkung und viel «tun». Es begegnen den Geschichten Vorlieben, Abneigungen und Assoziationen der lesenden Menschen. Da begreift das Mädchen, dass viele Menschen am Tag mehr Zeit brauchen, um die Geschichte zu erkennen, als es selbst in der Nacht braucht, um sie zu schreiben.
Es denkt und weiss sogleich, dass sobald die Menschen das Buch, in dem es Protagonistin ist, aufschlagen und mit Lesen fortfahren, dass es Mensch für Mensch interessiert beobachten und ihren Gedanken lauschen wird. Um dann, wenn gerade niemand im Buch liest, seine Geschichten weiterzuschreiben und so, das Nachtruh’n und das Tagestun einander bereichern zu lassen.
Lotta Ingold, Februar 2021
Wie beginnt man mit Schreiben, wenn man nicht weiss was man schreiben soll?
Eine geheimnisvolle Frage. Je nachdem, in welchem Teil der Frage sich die und der Schreibende gerade bewegen, entwickelt sich das Gespräch daraus in unterschiedlicher Weise.
Aus dem ersten Teil der Frage kann sich eine Verbindlichkeit herauskristallisieren: Indem ich mit Schreiben beginne. Ich setze mich hin und schreibe, wie konfus, wie präzise, wie fragend auch immer die ersten Sätze sind, ich lasse mich ein, in den Fluss des Schreibens.
Im zweiten Teil der Eingangsfrage kann man ein Bisschen herum spazieren – bildlich geschrieben. Wenn man nicht weiss, was man schreiben soll, soll man dann überhaupt schreiben?
Streicht man für einen Moment das nicht aus der Frage, so liest sie sich wegweisend klar: Wenn man weiss was man schreiben soll. Wagen wir uns, auch das an Bedingungen gebundene «wenn» wegzulassen, klärt sich die Frage weiter: Man weiss was man schreiben soll.
Auf dem Spaziergang durch die Frage begegnen Sie vielleicht ihrer ganz persönlichen Herangehensweise. Viel Freude beim Schreiben, liebe Fragestellende.
Lotta Ingold, Januar 2021
Ein offenes Buch
Ein Platz in der Wohnung, wo immer ein Buch offen liegt – das kann wie eine Zwiesprache sein. Innerhalb der Familienmitglieder und mit sich selbst.
Welches Bild liegt heute offen? Was für eine Stimmung verbreitet sich daraus?
Welche Aussage, Frage schlage ich heute auf? Lasse ich sie eine Weile still wirken? Sprudeln Gedanken durch den Kopf. Entsteht ein Gefühl.
So wie wir gewohnt sind, zum Körper zu schauen, so können wir auch auf unseren Verstand achten. Verselbständigt er sich mit inneren Selbstgesprächen? Kann er sich konzentrieren? Hat er die Möglichkeit sich offen verschiedenen Standpunkten und Themen zu widmen? Hält er Ruhe aus?
In diesem Sinne, stelle ich Ihnen gerne die folgenden Bücher vor:
Die Trilogie
In „Bewegt“ – „Begegnet“ –„ Belebt“ sind in kurzer, knapper Sprache Alltagsgeschichten und Gespräche als kurze „Essenzen“ niedergeschrieben. Dies ermöglicht der Leserin und dem Leser, aus Distanz mit fremden Worten auf bekannte Gegebenheiten zu schauen. Es kann Herausforderndes geteilt, Hartes aufgeweicht werden und Zartes kann klare Konturen erhalten.
In diesen drei Büchern arbeiten Bilder und Worte Hand in Hand.
Fragen erleben
Im Buch „Fragen erleben“, begegnen die Leserin und der Leser Fragen, die nicht unbedingt sogleich begreifbar sind. Sie bergen eine Freiheit, die sich im Begreifen wollen, oft nicht sofort fassen lässt. Es kann eine Ahnung, eine Betroffenheit, eine Sehnsucht, ein Innehalten, ein Interessiert sein aufkommen.
In neun Themen zu „Fragen erleben“, öffnet sich ein Entwicklungs-Zyklus.
Ich wünsche Ihnen viele inspirierende und bewirkende Momente mit offenen Büchern.
Lotta Ingold, 1.12.16